Geschichten & Co
Rettung aus Seenot
Zu der Zeit, als Nikolaus Bischof von Myra war, fuhren Seeleute mit ihrem Schiff über das Mittelmeer. Eines Tages brach ein furchtbarer Sturm los. Der Himmel wurde ganz finster und die Wellen tobten. Der Sturm packte das Segel und riss es in viele Stücke. Dann zerbrach auch der Mast. Die Wellen schlugen über den Bootsrand, und bald stand das Schiff voll mit Wasser. In ihrer Not dachten die Seeleute an den Bischof von Myra und riefen laut: »Nikolaus, hilf uns! Nikolaus, hilf uns!«
Da sahen sie plötzlich einen fremden Mann am Steuer ihres Schiffes stehen. Er nickte ihnen freundlich und beruhigend zu und lenkte das Schiff sicher durch den Sturm. So erreichten sie trotz des furchtbaren Unwetters sicher das Ufer. Als sie aber dort angekommen waren, war der furchtlose und freundliche Helfer verschwunden. Da liefen sie zur Kirche nach Myra, um Gott für ihre wunderbare Rettung zu danken.
Wie staunten sie, als sie dort den Bischof Nikolaus erblickten. Er und kein anderer war es gewesen, der in der Nacht ihr Schiff sicher durch das Unwetter gelenkt hatte. Da fielen sie vor dem Bischof auf die Knie und dankten ihm von ganzem Herzen. Nikolaus aber sagte: »Denkt an die Geschichte von Jesus, der so stark ist, dass ihm sogar der Sturm auf dem See Gennezaret gehorchte. Wenn ihr auf Jesus vertraut, wird euch nichts geschehen!«
Die Seeleute machten Nikolaus zu ihrem Schutzpatron. Und der heilige Nikolaus ist der Schutzheilige der Seeleute bis zum heutigen Tag.
Der kleine Straßenfeger und das Engelshaar
In der Nacht war Schnee gefallen, und dann hatte es gefroren. Der kleine Straßenkehrer zog sich wärmer an als sonst: mit der roten Pudelmütze, dem langen blauen Wollschal und den dicken roten Handschuhen. Leider hatten die Motten Löcher hineingefressen; so schaute an beiden Händen der Zeigefinger heraus und an der linken Hand auch noch der kleine Finger.
Traurig betrachtete der kleine Straßenfeger die nackten Finger, während er zur Winterstraße ging.engel
Heute brauchte er noch keine Schneeschaufel, aber wenn es weiter schneite, würde er mit dem Besen alleine nicht mehr auskommen.
Während er so die Straße kehrte, sah er auf einmal etwas im Schnee glitzern, etwas Glänzendes. Es war ein langer glänzender Faden, den der kleine Straßenkehrer aufhob. "Engelshaar", sagte er andächtig, "das Haar von einem Engel!" Und er wickelte das schimmernde Haar um seinen linken Zeigefinger, der am meisten fror.
Das Engelshaar sah wunderhübsch aus - und es wärmte! Nicht nur der Zeigefinger wurde warm sondern die ganze linke Hand.
"Guten Morgen, kleiner Straßenkehrer", rief Fräulein Wunderlich, vor deren Garten er das Engelshaar gefunden hatte. Sie war gerade zu ihrem Vogelhäuschen unterwegs, um den Meisen und Spatzen Futter zu bringen. "Was hast du denn da hübsches am Finger?", fragte sie. "Engelshaar", sagte der kleine Straßenkehrer stolz. "Jetzt macht es mir überhaupt nichts mehr aus, dass meine Handschuhe Löcher haben."
Fräulein Wunderlich lächelte ihm freundlich zu. Dann ging sie ins Haus zurück, holte rote Wolle und fünf Stricknadeln aus der Schublade und fing an, dem kleinen Straßenkehrer neue Handschuhe zu stricken. Sicher hat das der Engel so gemeint, dachte sie, als er sein Haar gerade vor meinen Garten legte.
Inzwischen kehrte der kleine Straßenkehrer weiter die Winterstraße. Ab und zu blieb er stehen und betrachtete glücklich seinen linken Zeigefinger.
Da kam die alte Zeitungsfrau vorbei. Sie trug ihre Hände in die Schürze gewickelt, weil sie ihre Handschuhe verloren hatte.
"Frierst du?" fragte sie der kleine Straßenkehrer. Die alte Zeitungsfrau nickte.
Der kleine Straßenkehrer zögerte einen Augenblick, dann löste er das Engelshaar von seinem linken Zeigefinger und gab es der Zeitungsfrau. "Du musst es um deine Hand wickeln", sagte er, "dann frierst du nicht mehr."
Und merkwürdig! Nicht nur die Hände der alten Zeitungsfrau wurden warm - auch die des kleinen Straßenkehrers blieben es, ja, sie wurden noch wärmer, als sie gewesen waren.
Eva Marder (+1987)
Der Einzling
Was fängt man denn mit einem einzelnen Stiefel an?
Nichts!
Und wenn er ganz neu ist?
Trotzdem nichts!
Mit einem einzelnen Stiefel kann niemand mehr etwas anfangen. Aber wegwerfen, so einfach wegwerfen kann man ihn doch auch nicht, oder? So dachte die Mutter von Michael an dem Abend, als sie vom Krankenhaus heimgekommen war.
Michael war beim Rodeln verunglückt und mit einem Beinbruch ins Krankenhaus gefahren worden. Dort hatte man ihm einen Stiefel aufschneiden müssen, weil man ihn nicht mehr über den angeschwollenen Knöchel herunterziehen konnte.
Na, der Stiefel war wirklich hin!
Aber der andere? Schließlich waren es ganz neue Stiefel gewesen, nigelnagelneue. Was konnte ein Stiefel dafür, dass der andere nicht mehr da war?
Die Mutter legte ihn einfach in die Schuhschachtel zurück, die ebenfalls nigelnagelneu war. So ein Quatsch! Manchmal fällt einem beim besten Willen nichts Gescheites ein.
Das war genau vor einem Jahr Michaels Bein war damals eingegipst worden, und nach sechs Wochen war alles vorbei. Aber natürlich auch der Winter!
Als der nächste Winter vor der Tür stand, hatte Michael zum Geburtstag im November neue Stiefel bekommen. Da kam auf einmal wieder die Schuhschachtel mit dem Einzling ans Licht. »Glaubst du«, fragte Michael die Mutter »ob ihn der Nikolaus füllen wird, wenn ich ihn vor die Tür stelle?«
»Aber sicher«, lachte die Mutter, froh über den glücklichen Einfall ihres Jungen. Dass sie nicht selber auf diese Idee gekommen war! »Probieren wir's aus?«, sagte Michael.
Der Stiefel wurde geputzt und in Form gebracht und am Nikolausabend vor die Tür gestellt. Einzelne Stiefel kann man ruhig vor die Tür stellen. Mit einem einzelnen Stiefel kann niemand etwas anfangen. Außer dem Nikolaus!
Als Michael am Morgen aus der Tür schaute, war der Stiefel wirklich gefüllt. Mit Konfekt und Waffeln bis obenhin. Und mit roten Bändern und Schleifchen verziert.
Michael strahlte. »Es hat geklappt! Es hat geklappt!«, freute er sich und es wurde ein Nikolausmorgen, wie er sein soll. So war der Einzling zu unvorhergesehenen Ehren gekommen. Ein Nikolausstiefel war er geworden. »Wie gut«, sagte die Mutter, »wenn man nicht gleich alles wegwirft. Mit etwas Fantasie lässt sich doch noch allerhand daraus machen!«
Isolde Lachmann (1940-2006)